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Dispute Governance bei der unionsrechtlichen Regulierung von Prozessfinanzierung (Lieberknecht, ZIP 2024, 1421)

Bei komplexen zivilrechtlichen Streitigkeiten agieren auf Klägerseite mehrere Akteure, deren Interessen teils divergieren. Eine sinnvolle Dispute Governance muss diese Interessen ausbalancieren. Von besonderem Interesse ist insoweit die zunehmende Bedeutung der Prozessfinanzierung, deren Regulierung Gegenstand eines vom Europäischen Parlament beschlossenen Richtlinienentwurfs ist. Der Beitrag würdigt den Entwurf kritisch und skizziert Grundzüge einer sinnvollen Dispute Governance anhand von sechs Problemkreisen bei der Regulierung von Prozessfinanzierung.

I. Einleitung: Prozessfinanzierung als Herausforderung für die Dispute Governance
II. Problemkreis 1: One size fits all? Diversität der Prozessfinanzierungsmodelle
1. Übergreifender Regelungsansatz des Richtlinienentwurfs
2. „Vorgesehene Begünstigte“ als Schutzadressaten
3. Zwischenfazit
III. Problemkreis 2: Eigeninteressen des Finanzierers
1. Treuhandlösung des Richtlinienentwurfs
2. Maßgebliche Interessendivergenzen
3. Realer Regelungsbedarf
IV. Problemkreis 3: Einfluss des Finanzierers auf die Prozessführung
1. Verbot der Einflussnahme im Richtlinienentwurf
2. Derzeitige Praxis
3. Regelungsmöglichkeiten
3.1 Berufsrechtliche Regulierung in Deutschland
3.2 Realer Regelungsbedarf
3.3 Zwischenfazit
V. Problemkreis 4: Beendigung des Finanzierungsverhältnisses
1. Einschränkung der Kündigungsgründe nach dem Richtlinienentwurf
2. Regelungsbedarf
VI. Problemkreis 5: Prozess- und Gegenkosten
1. Third party cost orders nach dem Richtlinienentwurf
2. Realer Regelungsbedarf
VII. Problemkreis 6: Höhe von Erfolgsbeteiligungen
1. Obergrenze für Erfolgsbeteiligungen nach dem Richtlinienentwurf
2. Wirtschaftliche Mechanismen hinter Erfolgsbeteiligungen
VIII. Fazit


I. Einleitung: Prozessfinanzierung als Herausforderung für die Dispute Governance

Die Drittfinanzierung von Zivilprozessen (third-party litigation funding – TPLF) hat in den vergangenen Jahren in der EU einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Beflügelt durch die Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung wirkt TPLF insbesondere bei der Finanzierung von Massenverfahren als Katalysator, um Anspruchsinhabern über rationale Apathie und Risikoaversität hinwegzuhelfen. Aber auch im Kontext großvolumiger Streitigkeiten im B2B-Bereich ist TPLF am Rechtsmarkt etabliert. Prozessfinanzierung ist – mit Ausnahme von Art. 10 Verbandsklage-RL – im Unionsrecht und auch in den meisten EU-Mitgliedstaaten noch völlig unreguliert. Seit geraumer Zeit nehmen allerdings Regulierungsbestrebungen auf Unionsebene Fahrt auf nd mündeten zuletzt in einer Entschließung des Europäischen Parlaments samt einem Vorschlag für eine Richtlinie zur Regelung der Finanzierung von Rechtsstreitigkeiten durch Dritte (nachfolgend: RL-E), dessen Umsetzung TPLF schlagartig in eine hyperregulierte Branche verwandeln würde.

Das letzte Wort ist insoweit aber noch lange nicht gesprochen: Dem Vernehmen nach möchte die Europäische Kommission die Implementierung der Verbandsklagen-RL in den Mitgliedstaaten abwarten, bevor sie das Vorhaben weiter vorantreibt. Damit existiert ein aktuelles Referenzdokument, aber es bleibt Gelegenheit, um den RL-E kritisch zu hinterfragen und neu darüber nachzudenken, wie TPLF in der EU reguliert werden sollte.

Diese Diskussion findet vor dem Hintergrund weitreichender Transformationsprozesse in der europäischen Zivilprozesskultur statt: Komplexe Streitigkeiten sind inzwischen keine bilaterale Angelegenheit zwischen zwei gegnerischen Parteien mehr. Das gilt freilich bereits dann, wenn man die Prozessvertreter als separate Akteure mit eigenen Interessen begreift, wie es das Berufsrecht tut. Das Bild wird aber umso komplexer, wenn mit dem Prozessfinanzierer auf Klägerseite ein weiterer Akteur die Bühne betritt. Bei Abtretungsmodellen agiert außerdem der Inkassodienstleister an der Schnittstelle zwischen (ursprünglichem) Anspruchsinhaber, Finanzierer und Prozessvertreter. Das Gleiche lässt sich über die qualifizierte Einrichtung bei der Verbandsklage sagen. Die Klägerseite besteht also oftmals aus einer Zweckgemeinschaft, die das Ziel des Prozesserfolgs eint, deren Interessen aber auch divergieren können. Man kann insoweit von Dispute Governance sprechen, denn strukturell ähnelt die Dynamik der Corporate Governance, also dem Anliegen des Gesellschaftsrechts, Interessen von Minderheits- und Mehrheitsgesellschaftern, Management und Gläubigern auszutarieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich unter den kooperierenden, aber zugleich konkurrierenden Akteuren allein durch privatautonome Vereinbarungen ein gerechter und effizienter Interessenausgleich einstellen wird oder ob regulatorische Eingriffe vonnöten sind. Der RL-E findet auf diese Frage leider kaum überzeugende Antworten, denn er scheint primär von diffusen moralischen Vorbehalten gegen (neuartige) Akteure getragen zu sein, die mit Rechtsstreitigkeiten Geld verdienen. Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Beitrag sechs zentrale Problemkreise der Dispute Governance im TPLF-Bereich.

II. Problemkreis 1: One size fits all? Diversität der Prozessfinanzierungsmodelle

1. Übergreifender Regelungsansatz des Richtlinienentwurfs
Der RL-E soll ausweislich seiner Art. 1 und 2 sämtliche Varianten der gewerblichen Prozessfinanzierung einem einheitlichen Regulierungs- und Aufsichtsregime unterwerfen. Er unterscheidet nicht zwischen (der Finanzierung von) Rechtsstreitigkeiten, die von Unternehmen geführt werden (B2B-Finanzierung), und solchen, die von Verbrauchern als Klägern geführt werden (B2C-Finanzierung). Der Verzicht auf eine solche Unterscheidung mag dem Umstand geschuldet sein, dass B2C-Finanzierungen in der Praxis kaum vorkommen.

Das bedeutet allerdings nicht, dass keine Finanzierung von Verbraucherstreitigkeiten stattfände. Diese erfolgt aber bislang regelmäßig im Kontext von Abtretungsmodellen. Hier tritt dem Finanzierer als Vertragspartner der Inkassodienstleister gegenüber, also ein gewerblicher Akteur. Das gilt sowohl, wenn die Zedenten – etwa in Kartellschadensersatzfällen – selbst Unternehmen sind, als auch dann, wenn es sich – wie oftmals in Diesel-Fällen – um Verbraucher handelt. Bei der Verbandsklage liegt der Fall ähnlich, weil die finanzierte Partei dort mit der sog. qualifizierten Einrichtung ebenfalls ein professioneller Akteur ist. Ansprüche von Verbrauchern werden also oft in einem trilateralen Verhältnis geltend gemacht, das im Verhältnis des Verbands oder Inkassodienstleisters zum Drittfinanzierer B2B-Charakter hat. Ob in diesem Verhältnis ein Regelungsbedarf im vom RL-E vorgesehenen Ausmaß existiert, ist höchst fraglich. Die eigentlich schützenswerte Partei, nämlich der Zedent bzw. Verbraucher, steht außerhalb der Finanzierungsvereinbarung.

2. „Vorgesehene Begünstigte“ als Schutzadressaten
Diesen Umstand versucht der RL-E zu adressieren, indem er Regelungen, die in bilateralen Konstellationen dem Schutz der finanzierten Partei dienen, auch auf den „vorgesehenen Begünstigten“ erstreckt. Das führt indes dazu, dass Finanzierern weitreichende Pflichten in Bezug auf Parteien auferlegt werden, mit denen sie selbst gar nicht kontrahieren. Der sinnvollere Regelungsadressat wäre insoweit der Inkassodienstleister oder Verband, der in einem direkten Rechtsverhältnis mit dem vorgesehenen Begünstigten steht und auch ...

 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.07.2024 09:31
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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